Ökonomie, Ökologie und Soziales in Einklang zu bringen, ist eine der grossen aktuellen Herausforderungen. Der menschlichen Ernährung und damit der Ernährungswirtschaft und insbesondere der nachhaltigen Landwirtschaft kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Wie können gesunde Lebensmittel unter den sich verändernden klimatischen Bedingungen umweltverträglich hergestellt und damit Ressourcen geschont werden? Wie können wir selbst einen Beitrag für ein nachhaltigeres Ernährungssystem leisten? Zu diesen Fragen haben wir Landwirtin Nicole Tanner vom Birsmattehof, Bio-Bauernhof in Therwil bei Basel, interviewt. Auf dem Birsmattehof wird seit 1981 nach den Richtlinien von Bio Suisse Gemüse angebaut. Saisongerecht und vielfältig.
Frau Tanner, was umfasst nachhaltige Landwirtschaft in der Schweiz?
Nachhaltige Landwirtschaft ist für mich eine Landwirtschaftspraxis, die wir auch noch in 100 Jahren betreiben können und die eine dauerhafte Erhaltung der natürlichen Fruchtbarkeit sichert. Eine Landwirtschaft, die an die Region und ihre Funktion als Lebensraum für Menschen und ihre Ernährung angepasst ist. Damit noch mehr Betriebe nachhaltig wirtschaften, besteht Handlungsbedarf. Es gibt schon eine gute ökologische Praxis bei den biologisch wirtschaftenden Betrieben, aber wieviel Prozent der gesamten Produktion macht dies aus? 10-20 Prozent, je nachdem, ob Getreide, Gemüse oder tierische Produkte erzeugt werden. Die Produktion muss standortgerecht sein. Futtermittelimporte für Fleischproduktion gehören für mich nicht dazu. Handel und Austausch muss es dort geben, wo es für eine nachhaltige Produktion Sinn macht. Die Konsument*innen müssen ihren Beitrag leisten, indem sie beispielsweise davon abrücken, Produkte zu kaufen, die mit aufwändigen Kühltechniken und langen Transportwegen herangeschafft werden. Und sie müssen nicht nur den Einkauf anschauen, sie müssten auch den kurzen Weg zum Einkauf vor Ort ohne Auto nutzen.
Wie wichtig ist dabei die Zertifizierung durch ein Bio-Label, Stichwort «Vertrauen»?
Das Label, in das man Vertrauen haben kann, erleichtert mir die Entscheidung beim Einkauf. Das Label ist mein Partner, der genauer hinschaut, wie der Transportweg ist, ob und welche Pestizide oder Düngemittel eingesetzt werden und ob der Boden als natürliche Produktionsgrundlage dauerhaft erhalten wird. Mit der Knospe von Bio Suisse haben wir in der Schweiz ein Label, in das ich grosses Vertrauen habe. Es ist ganz klar, dass es nie eine hundertprozentige Sicherheit gibt, und es ist auch wichtig, ein Label weiterzuentwickeln. Wir sind aber auf dem richtigen Weg.
Wie wichtig ist Bildung für Euch als Produzent*innen und bei Euch auf dem Hof für das Personal, um auf klimatische Veränderungen vorausschauend und richtig zu reagieren?
Wir reden über Nachhaltigkeit und Bio-Labels in der Ernährung. Wir haben es heute mit sehr diversifizierten Wertschöpfungsketten in der Ernährung zu tun. Bildung ist insofern wichtig, dass man innerhalb des Ernährungssystems Ursachen zum Beispiel für den Klimawandel versteht. Für uns als Landwirt*innen ist Bildung wichtig, damit man seine landwirtschaftliche Praxis, die Art wie wir mit dem Boden und den erzeugten Lebensmittel umgehen, den Lebensmitteln umgehen, einordnen kann. Wir müssen verstehen, wo man Kompromisse eingehen kann und welche Konsequenzen unser Eingriff in die Natur hat. Wie kann man es noch besser machen? Das ist ein Bildungsziel.
In Nigeria haben wir das Ziel, Frauen zu fördern, ihre Kenntnis in Agrarökologie zu verbessern – inwiefern ist Gender-Gerechtigkeit in eurem Betrieb ein Thema?
Wir haben eine Herausforderung, mit der wir nicht alleine sind, und das ist, kenntnisreiche Mitarbeiterinnen zu finden, die sich auf die Landwirtschaft, auf diese Branche einlassen wollen. Wir sind nicht die Branche mit den Toplöhnen. Innerhalb des Birsmattehofes achten wir auf die Gleichbehandlung der Geschlechter, auch wenn wir verschieden sind. Wir bieten sehr viele Teilzeitarbeitsplätze an, auch wenn das manchmal eine Herausforderung ist. Im Lohnbereich gibt es selbstverständlich keine Unterschiede und auch Leitungspositionen sind mit Frauen besetzt.
Aktuell spürt man, dass die Kundschaft wegen steigenden Preisen ausgerechnet bei Bio- und nachhaltigen Produkten spart. Was braucht es Ihrer Meinung nach, um die Konsumentinnen in der Schweiz zu sensibilisieren?
Wir brauchen mehr Mut, den Wandel zu einem nachhaltigen Lebensstil als Gewinn und nicht als Verlust zu verstehen. Die Medien könnten uns helfen, weniger Ängste zu bewirtschaften, sondern positive Beispiele aufzuzeigen. Gerade die Schweiz bietet unglaublich viel Nachhaltiges und Schönes direkt vor der Haustür. Wieso gelingt es uns nicht, dass die Konsument*innen ihre eigenen Interessen besser wahrnehmen? Viele leiden unter Strassenverkehr, Lärm, Feinstaub und Abgasen. Aber wer ist denn wirklich für den Einkauf auf das Auto angewiesen?
Statt nur auf den Preis eines Produktes zu schauen, sollte der Konsum als Ganzes betrachtet werden. Was ist gesund für mich? Wie kann ich in meinem Quartier, in meinem Dorf zu einem attraktiven Leben beitragen? Zum Beispiel durch einen Besuch des Ladens um die Ecke, in der Dorfbeiz oder auch im Gourmetrestaurant in der Region. So im Sinn: Leute, jetzt müssen wir etwas ändern, packen wir‘s an. Mit Genuss, Kreativität und Optimismus. Ohne zu viel Angst und Gejammer.
Ein Stichwort für die nötige Sensibilisierung ist Bildung. Es braucht Aufklärung, in den Schulen, in der Erwachsenenbildung. Und Kochunterricht, der so ausgerichtet ist, dass wir in Europa uns auch in 50 Jahren ernähren können, ohne dies auf Kosten der Natur oder jener Menschen zu machen, die heute von den Folgen der Klimaerwärmung besonders bedroht sind. Man kann auch mit einfachen Produkten, nicht immer mit exklusiven oder von der Industrie vorfabrizierten Zutaten, leckere Gerichte kochen – auch gemeinsam mit Kindern. Unsere Ernährung begleitet uns durchs ganze Leben, aber wie wenig Aufmerksamkeit schenken wir dieser!
Interview: Séverine Fischer, Mission 21